Prof. Dr. Karol Sauerland

Ausgewählte Texte

Karol Sauerland

Das Ich und die Anderen und das Dazwischen

Ich. Wer ist das? Gäbe es mich, wenn ich keinen Bezug hätte, auf die, die man so gemeinhin die Anderen nennt? Ich bin erst einmal der/die Andere für die Anderen. Aber das Für-Sein ist ja nicht das Ich, es ist auch nicht die Welt der Anderen; es ist ein Dazwischen. Dieses lässt sich jedoch am wenigsten festhalten, am wenigsten bestimmen. (...) Das Dazwischen zeichnet sich durch Vielfalt, ein ständiges Sich-Wechseln aus.

Von dem Ich aus gesehen, geht es darum, bei dem Anderen, der Anderen oder den Anderen einem bestimmten Bild gemäß wahrgenommen zu werden. Dieses Bild soll davon zeugen, dass das Ich jemand Bestimmtes ist. Die Anderen sollen sagen können: er/sie ist so, daran ist nicht zu rütteln. Damit müssen die Anderen sich abfinden. Sie tun es natürlich nicht, sie kritteln und kritzeln an dem Bild herum, oder sie interpretieren es so eindeutig, dass das Ich sich missverstanden fühlt, denn es ist ja in sich nie eindeutig oder nur gezwungenermaßen. Es hat im allgemeinen den Wunsch, vieles auf einmal zu sein und nicht auf eine Rolle festgelegt zu werden, zumindest nicht für immer. Es sendet daher Signale aus, um das Bild zu korrigieren, womit es ein neues Dazwischen schafft.

Ein neues Dazwischen entsteht zudem dadurch, dass der/die Andere und auch die Anderen nie die gleichen bleiben, in ihrer Art und in ihrer Zahl. Beim Kind spricht man von Bezugspersonen, die sich verändern oder gar wechseln. Ein Kind wird in eine Familie hineingeboren. Ob es das erste, zweite oder dritte ist, bedeutet einen Unterschied. Mehr können wir uns heute kaum noch vorstellen. Aber einst gab es auch das zwölfte. (...) Da gibt es ferner die Großeltern, die Tanten und Onkel. Die Liebhaberinnen und Liebhaber. Die Lehrerinnen und Lehrer. Die Gleichaltrigen. Eine Vielfalt von Dazwischen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass das Ich in zwei oder mehreren Kulturen lebt, d.h. sich von früh an in verschiedenen Sprachen bewegen muss.

Das Ich lebt in einem Raum, in dem die Anderen Bezugspunkte bilden. Sie müssen nicht einmal lebende Andere sein. Auch die Toten gehören dazu. Ein Kind wächst ohne Vater auf, weil dieser erschossen worden ist, aber er lebt durch die Erzählungen der Anderen. Auch Gott kann ein Anderer sein, vor dem das Ich bestehen will. Die Kunst des Ichs ist es, mit den vielen Anderen zurechtzukommen. Das gelingt zumeist nicht, weil die Anderen miteinander nicht zurechtkommen. Das Ich soll Partei ergreifen, sich einige gute Andere auswählen und die anderen Anderen verwerfen oder zu Feinden erklären. Es tut dies im allgemeinen gern, um in das vielfältige, chaotisch erscheinende Dazwischen eine gewisse Ordnung zu bringen. Die Bezugspunkte sollen klarer verteilt sein. Aber was, wenn sich unter den Anderen ein Romeo oder eine Julia befinden? Die Eigenen werden dann zu Feinden, zu schlechten Anderen, das Ich sucht Unterstützung, überall, wo es sie nur finden kann. Es muss sich ein neues Bezugssystem aufbauen, um den einen Anderen, Romeo, oder die eine Andere, Julia, zu treffen, um mit ihm oder ihr zusammen sein zu können. Diese Relation wird als Liebe definiert. Man hat den Eindruck, es ginge nur um den einen Anderen oder die eine Andere, aber in Wirklichkeit sprechen viele Andere direkt oder indirekt mit. An die Stelle von Romeo und Julia lässt sich auch die Wahl eines Studienfaches oder einer politischen Option setzen. Es kommen wieder die vielen Anderen dazwischen. Das Ich gelangt in ein neues Dazwischen, in dem es sich behaupten muss, wenn es in diesem neuen Raum einen Platz finden will.

Was ist angesichts dessen das Ich? Ein Relationsgefüge. Ein Etwas, das sich zwischen Anderen behaupten will und muss. Es bestimmt sich in Bezug auf Andere. Wenn man von Ich-Identität sprechen wollte, wäre diese mit den Fäden, die das Ich zu den Anderen (...) knüpft, identisch. Es ist eine kurzlebige Identität, denn in jedem Augenblick verändert sich das Netz, die einen Fäden zerreißen, andere werden neu, schon bestehende werden lockerer oder enger geknüpft. Das Ich erscheint wie eine Spinne, die dauernd um ihr Netz besorgt ist. Nur sind die Punkte, an denen sie die Fäden festmacht, beweglich, in sich veränderlich. Der/die Andere wird plötzlich anders, weil Andere anders geworden sind oder auch das Ich sich verändert hat.

Das bedeutet nicht, dass das Ich nicht bestimmbar ist, es ein Abstraktum darstellt wie das Blatt und die Ehrlichkeit, von denen Nietzsche gesagt hat: »So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so ge­wiss ist der Be­griff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individu­ellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unter­scheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das ›Blatt‹ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter ge­webt, gezeich­net, abgezir­kelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuver­lässig als treues Abbild der Urform ausge­fallen wäre. Wir nen­nen einen Menschen ehr­lich; warum hat er heute so ehrlich ge­handelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlich­keit! das heißt wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die Ehr­lichkeit hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, so­mit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: die Ehrlichkeit.«

Nein, es geht darum, dass das Ich als ein Sich-zu-Anderen-in-Relation-Setzen zu begreifen ist. Es ist nicht vom jeweiligen Dazwischen abhängig, sondern davon, wie es dieses Dazwischen formt, wie es die Fäden zu den Anderen zieht, sich zu den Anderen gegenüber stellt oder auch einstellt.

Man könnte also meinen: Ich – das sind die Anderen. Doch so ist es wiederum auch nicht. Das Ich will, um als ein Ich wahrgenommen zu werden, anders als die Anderen sein. Gleichzeitig darf dies nicht klar auf der Hand liegen, denn dann droht die Gefahr, dass die Anderen sagen, ja, das ist die und die Person mit diesen und jenen Eigenschaften. Sie ist berechenbar, man braucht sie im Grunde nicht zu beachten. Daher benötigt das Ich etwas, das es zu einem Rätsel macht. Es muss etwas Geheimnisvolles in sich tragen. Das erreicht es, indem es entweder irrational zu handeln scheint, oder wenn es sich nicht in die Karten schauen lässt, (...) Geheimnisse für andere schafft. Man nennt es auch die Suche nach Individualität.

Diese ist durch die Auflösung der Großfamilie und vor allem durch das Verschwinden von dörflichen Strukturen gestärkt worden. Das Ich darf mittlerweile seine eigenen Wege gehen, es hat ein Recht auf Privatheit. Dieses Recht ist bekanntlich neueren Datums. 1890 hatten die Juristen Warren und Brandeis in ihrem Aufsatz »The right to be let alone« die Privatheit in die Diskussion gebracht. In der Rechtssprechung spielt sie erst in den letzten Jahrzehnten eine Rolle. In einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16.7.1969 heißt es programmatisch: Dem einzelnen muss um der freien und selbstverantwortlichen Erhaltung seiner Persönlichkeit Willen ein »Innenraum« verbleiben [...], in dem er »sich selbst« besitzt und »in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt«.

Es gäbe einen Bereich menschlichen Eigenlebens, der von Natur aus Geheimnischarakter habe. Eine solche Ansicht konnte sich erst nach den furchtbaren Erfahrungen mit den totalitären Staaten durchsetzen sowie nach den grundlegenden Veränderungen im Zusammenleben der Menschen in der »Wohlstandsgesellschaft«, als es für den Einzelnen möglich wurde, über einen eigenen Raum oder gar eine eigene Wohnung zu verfügen. Man erinnere sich nur daran, dass in älteren Zeiten der Besitz eines eigenen Betts als Möbel allgemein unbekannt war. Die Menschen schlugen erst zur Nacht ein Lager auf und durchquerten ungeniert die Räume, denn Korridore waren selten. In den Augen der heutigen Europäer mussten die Menschen damals ihr Ich verleugnen. Sie gingen in den Anderen auf. (...) Wo wenig Freiraum ist, gibt es auch wenig Toleranz, man tritt sich schneller gegenseitig auf die Füße. Je größer der Raum für ein Dazwischen ist, desto mehr wächst das Gefühl, man habe ein eigenes Ich. (...) Man fühlt sich nicht durch Andere bedrängt, etwas tun zu müssen, womit man vor anderen Anderen nicht bestehen kann, obwohl man vor ihnen bestehen möchte. Es müssen natürlich nicht nur tatsächlich existierende Andere sein, Vorgestellte reichen aus. Etwa die aus der Nachwelt. So sagt man, ich möchte auch noch vor der Nachwelt bestehen. Oder man wirft jemandem vor, er tue etwas, was er bereuen wird, was ihm nie verziehen wird.

Das Ich sind nicht die Anderen, es ist die Beziehung zu den Anderen und gleichzeitig das Absetzen von ihnen. Das Ich wird erst als Ich wahrgenommen, wenn es ein Anderes ist als alle Anderen. Das gelingt ihm nur, wenn es ein Dazwischen schafft, das anders ist als alle anderen Dazwischen.

Im Grunde ist sich jedes Ich dessen bewusst, dass es sich nicht aus sich heraus bestimmt, nicht aus Ich-Suche besteht, sondern dauernd auf die Anderen schaut. Es will gerade so oder nicht so wie ein Anderer sein. Es lehnt fortwährend ab und ahmt fortwährend nach. Ich möchte so sein, wie ein Anderer war, lässt Handke Kaspar Hauser sagen. (...) Die Ich-Erweiterung, von der Broch spricht, ist im Grunde eine Erweiterung der Beziehungen zu Anderen und Anderem, findet in der Kommunikation mit Anderen statt. Man kann es auch einen Dialog nennen, wobei man sich bewusst sein sollte, dass dieser nicht im Konsens seinen Anfang nimmt, sondern im Dissens, im Missverstehen, wie Schleiermacher gezeigt hat. Wer versteht, fragt nicht. Wer wenigstens die Möglichkeit des Missverstehens einbezieht, muss fragen. Er braucht es nicht laut zu tun, er mag innerlich fragen, aber auch dann wird er sich den Anderen, an den er die Frage richtet, vorstellen müssen. Die Antwort wird sich das Ich in den seltensten Fällen sofort geben können, es wird mit vielen kommunizieren müssen, was für die »Ich-Werdung« und »Ich-Erweiterung« nur ein Gewinn sein kann. Diese Art des Umgangs mit Anderen bedeutet nicht Orientierungslosigkeit, sondern die Schaffung von Orientierung im dauernden Wechselspiel.